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Dieser Artikel erschien als Print-Veröffentlichung im Mitglieder-Magazin des VGA-Bundesverband der Assekuranzführungskräfte e.V. in der Ausgabe Jahrgang 70, 2021 – Nr. 5 und wird mit freundlicher Genehmigung der Geschäftsführung an dieser Stelle der Branchen-Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Wohin wird sich der Versicherungsvertrieb in den kommenden Jahren entwickeln, welche Faktoren werden für den Erfolg der Vermittlerbetriebe besondere Wirkung entfalten? Diesen Fragen widmen sich in unserer neuen Kolumne Thomas Burdack und Sebastian Heithoff.

Das Thema heute:

Sind Ökosysteme für die Versicherer die neue Quelle für Umsatz und Wachstum? 

Versicherungsabschlüsse auf digitalen Plattformen, ohne Einsatz des personalen Vertriebs, sind längst schon bei vielen Versicherern auf der To-do-Liste oder bereits umgesetzt. Namhafte Wirtschaftsberatungen prognostizieren, dass in wenigen Jahren ca. 30 % des Kompositumsatzes vorbei am klassischen Vermittler über sogenannte Ökosysteme gewonnen wird. Doch können Vermittler, insbesondere der Exklusivvertrieb, davon profitieren oder nur verlieren?

Versicherungsschutz kaufen Kunden nur, wenn sie zuvor Wirtschaftsgüter erworben haben oder Vermögenswerte zu sichern sind. Wir sprechen deshalb vom „Sekundärbedarf“, der mit dem Abschluss von Versicherungen gedeckt wird. Eine Versicherung ist somit nie Selbstzweck.

Versicherer oder Vermittler suchen deshalb schon seit ewigen Zeiten die Kooperation mit den Distributoren, die den Primärbedarf ihrer Kunden decken. Das Autohaus, der Immobilienmakler, das Reisebüro oder der Elektronikhandel sind beliebte Annexvertriebe; denn sie sind an der Quelle und wissen genau, wann Versicherungsbedarf neu entsteht. Zeitlich meist vor dem betreuenden Versicherungsvermittler, so wird der Versicherungsschutz in einem Rutsch gleich mitverkauft. Allerdings ist der Abschluss in einigen Versicherungssparten nicht trivial und erfordert schon Sachverstand, ja eventuell sogar eine Gewerbeerlaubnis oder ist wirtschaftlich unattraktiv. So bleiben viele „Erstverkäufer“ nur Tippgeber und leiten an den verbundenen Versicherungsprofi über.

Mit der rasant fortschreitenden Digitalisierung entsteht hier gerade eine mächtige neue Vertriebsmaschine. Der Vertrieb über sogenannte Ökosysteme nimmt Fahrt auf und wird dem klassischen Vertrieb das Leben gewaltig schwer machen. 

Die Idee dahinter: Kunden kaufen ja eigentlich nur Produkte, um das wahre, dahinter liegende Grundbedürfnis zu befriedigen. Auto = Mobilität oder Status, Haus = sicher und autark wohnen, Rentenversicherung = selbstbestimmt das Alter genießen. 

Schlussfolgernd bauen immer mehr IT- und Marketingspezialisten attraktive, digitale Plattformen (Ökosysteme). Hier finden ihre Zielgruppen alle Antworten und Lösungen zu dem speziellen Interessens- oder Lebensbereich, frei nach Amazon: Kunden, die das gekauft haben, kauften auch…

Damit lassen sich große Bündel verschiedenartiger Produkte und Dienstleistungen durch die Betreiber und Beteiligten dieser Plattform zusammenbringen. Gepaart mit nützlichen Informationen und Mehrwerten entsteht ein riesiger, konsumentenfreundlicher „Marktplatz“. Kaufprozesse werden so digital vereinfacht und in einen perfekten Sales Funnel gekleidet. 

Gepaart mit KI werden damit auch komplexere Versicherungsabschlüsse gelingen. Fintechs beweisen, wie Antrags- und Policierungsprozesse an die Kundenfront verlagert werden können. Wer tiefer in diese neue Welt eintauchen möchte, dem empfehlen wir das Buch „Digitale Ökosysteme – Strategien, KI, Plattformen“ von Dieter Knörrer und weiteren Mitautoren (ISBN 978-3-95647-192-6) oder die kostenfreie KPMG-Studie „Die Zukunft der Kompositversicherung“ aus 2019. Interessant ist auch das Interview mit Julian Kawohl, Professor für Strategisches Management an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (https://transformationleader.de/zukunft-fuer-unternehmen-nur-im-oekosysteme/).

An einem vereinfachten Beispiel wollen wir einmal verdeutlichen, wie ein Ökosystem aussehen könnte, in dem der Versicherer oder aber auch ein Versicherungsvermittler der Initiator (Orchestrator), ist.

Es geht um die Zielgruppe Eigenheimbesitzer und deren emotionales Grundbedürfnis: 

Sicher, selbstbestimmt und lebzeitig in den eigenen vier Wänden wohnen.

Auf einer solchen Plattform präsentieren sich also viele Anbieter (Realizer). Sie alle bedienen ein und dieselbe Zielgruppe, nämlich Menschen, die mit ihrem konstanten, meist emotionalen Grundbedürfnis, Anregungen, Informationen und Problemlösungen zu dem Lebensbereich „Wohnen in den eigenen vier Wänden“ suchen. 

So haben Versicherer mit großen Wohngebäudebeständen beste Aussichten, diese neuen Verkaufsorte zu besetzen. Aber auch Banken können hier Zielgruppenbesitzer sein. Ihr Bestand an Gebäudefinanzierungen könnte noch attraktiver sein, solch ein Ökosystem zu orchestrieren, zumal sie wahrscheinlich noch umfassendere Kundendaten vorhalten. Alle Beteiligten haben die Chance, ihren Markt und Umsatz mit ihren speziellen Produkten auszubauen. Sie bekommen direkt oder indirekt Zugang zu ihren Wunschkunden, ohne einen eigenen Vertrieb dafür vorzuhalten.

Und wo ist die Alternative für den Vermittler?

Klassischen Vermittlern fehlt es meist an den Ressourcen, um solche Plattformen zu bauen. Trotzdem sollten sie darüber nachdenken, wie sie ihre Netzwerke und ihre Kooperationen regional auf breitere Fundamente stellen und sich in einer „Gefahrengemeinschaft“ mit anderen Unternehmen und Beraterberufen verbünden, die ebenfalls durch Ökoplattformen gefährdet sind. Die kleinere Variante einer Plattform ist etwa eine Social-Media-Community oder aber das analoge Netzwerk, das gute Vertriebler ja schon immer aufgebaut und gepflegt haben.

Ökosysteme sind ein Turbo, um den Produktverkauf im Privatkundengeschäft noch weiter zu verändern.

Viele Vermittler sind auf dem richtigen Weg zum ganzheitlichen Beratungsverkauf. Sie müssen aber ihren Blick für die wahren Grundbedürfnisse ihrer Wunschkunden noch weiter schärfen. Ansonsten bleiben sie im Produktdenken verhaftet. Der Kunde kauft keine Rentenversicherung, sondern die Option, den längsten Urlaub seines Lebens, nämlich sein Rentnerdasein, mit Wohlstand und selbstbestimmt zu erleben. Wenn politisch oder finanztechnisch die private Altersvorsorge nicht mehr (gegen Provision) verkauft werden kann, bedarf es sinnvoller Alternativen für den Vermittler und seine Kunden. Hierbei kann die Kooperation mit Partnern nützlich sein, die das gleiche konstante Grundbedürfnis bedienen, nur mit anderen Produkten. Nokia, Dual oder Polaroid haben das schmerzvoll erfahren.

Wer in Produkten denkt, riskiert einmal mehr seine Existenzberechtigung, wenn Rahmenbedingungen oder Innovationen disruptiv einwirken.

Natürlich soll der Versicherungsexperte nicht zum Stromverkäufer oder Immobilienspezialisten mutieren. Das widerspricht dem Expertenstatus. Nur große Vertriebsorganisationen können über diese Diversifikation nachdenken (siehe Check24). Aber der Ausbau digitaler oder analoger Kooperationen, unter Einhaltung aller datenschutzrechtlichen Aspekte, sollte insbesondere den Privatkundenvermittler zu kreativen Möglichkeiten animieren. 

Wie wäre es z.B. mit einer „Wohngemeinschaft“ als Mieter oder Eigentümer im 

„Beraterhaus für Wohnen in den eigenen vier Wänden“.

Notar, Steuerberater, Architekt, Bauberater und -sachverständige, Immobilienmakler, Finanzierungsberater, Hausmeisterdienste, Pflegeberatung, Sicherheitstechniker, Energieberater und natürlich im Zentrum der Versicherungsexperte. Alles unter einem Dach. Ein Leuchtturm der Region, ein „Markt- und Messeplatz“ für den Interessenten oder Eigentümer von Wohneigentum. 

Der Autohandel hat sich dieses Prinzip früh zu eigen gemacht: Alle Autohäuser möglichst in einer Straße, das zieht eine große Menge von Interessenten an und vergrößert die Kundenströme erheblich. Aber auch der seit Jahrhunderten betriebene Wochenmarkt, der gerade eine neue Blütezeit erlebt, ist bestes Beispiel, wie Kunden mit gleichen Interessen (Lebensmittel vom Erzeuger) diese Plätze lieben. 

Versicherer geben derzeit Milliarden für digitale Akquisitions- und Vertriebsprozesse aus. Warum nicht mal ein deutliches Signal an den eigenen Exklusivvertrieb, solch ein analoges Konzept parallel als analoger Orchestrator zu starten? In den größeren Städten werden bald reichlich Büroflächen durch Homeofficeregelungen frei. Chancen für günstige Anmietungen. Oder im Schulterschluss mit großen Baumärkten. Bloß mal kreativ werden.

Das größte Potenzial für die Zukunft des Verkaufens liegt im Erschließen neuer Verkaufsorte. Die Betreiber von Ökosysteme werden dieser These folgen. Unternehmerisch denkende Vermittler und Versicherer sollten in dieser neuen Zeit ebenfalls über mögliche neue Verkaufsorte nachdenken und mutig handeln; denn „Think big“ würde auch unserem Berufsstand gut zu Gesicht stehen. Freuen wir uns auf diese neue Gründerzeit.

[Haben Sie Fragen, Wünsche oder Anregungen, freuen wir uns jederzeit über eine Kontaktaufnahme via LinkedIn! Oder über unsere Website.]

Zu den Autoren:

Thomas Burdack (*1952),
in der Versicherungsbranche seit 1974. Aufbau und Leitung einer Versicherungsvertriebsgesellschaft in Lübeck, Rostock und Riga. 1997 folgte der Wechsel zur Provinzial Nord, zunächst als Bezirksdirektor für den AO-, Makler- und Sparkassenvertrieb. Ab 2007 Leiter Agenturentwicklung und Weiterbildung. Seit 2017 selbstständiger Berater, Trainer, Vortragsredner und Gründer des ID Campus. Schwerpunkte: Agenturmarketing, Absatzstrategie, Trends im Versicherungsvertrieb, Wandel vom Verkäufer zum Risikocoach, Beratungskonzepte für Gewerbekunden, Entwicklung vom Verkäufer zum Unternehmer.

Sebastian Heithoff (*1986),
in der Versicherungsbranche seit 2007. Langjährig im Bereich Online-Kommunikation und Marketing aktiv, seit 2016 in beratender Funktion für die Assekuranz, erst angestellt bis zur Teamleitung, seit 2020 als selbstständiger Unternehmensberater für den Versicherungsvertrieb tätig. Schwerpunkte sind hierbei die Bereiche Positionierung („Vermittlermarke“) und Digital Enablement.

Versicherungsvertrieb neu gedacht – Dies ist das Motto des ID Campus in Lübeck/Bad Schwartau.
Sebastian Heithoff

Sebastian Heithoff

Unternehmensberater Digital & Positionierung

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